Unsere gewöhnliche Einstellung zum Lernen lässt uns nicht zukunftsfähig sein!

Ich bin ein leidenschaftlicher Lerner. Ich lerne so gerne, dass ich das Lernen sogar zu meinem Beruf gemacht habe. Und dennoch musste ich vor kurzem in einer Session mit einer Trainerkollegin feststellen – und ich kann kaum glauben, dass ich das jetzt schreibe – dass tief in mir eine unbewusste Abneigung gegen das Lernen vorhanden ist. Das war eine unerwartete Entdeckung.

Während dieser Session wurde uns klar, dass die Art und Weise, wie Lernen in unserer jetzigen Kultur von Statten geht und die Erfahrungen, die wir mit dem Lernen gemacht haben, in uns tiefe Überzeugungen hinterlassen haben, die es verhindern, dass wir uns voll und ganz auf das Lernen einlassen können.

Lernen in unserer heutigen Kultur bedeutet in der Regel, dass wir noch nicht ganz fertig sind, noch nicht gut genug. Das Lernen findet in abgetrennten Institutionen statt, wie der Schule, die uns auf das Leben vorbereiten soll. Lernen ist in unserer heutigen Kultur getrennt vom eigentlichen Leben, sozusagen ‚vorgelagert‘ – erst müssen wir lernen und dann können wir leben. Dabei wird in diesen Institutionen hauptsächlich Wissen in unsere Köpfe gekippt, was uns aber in keinster Weise auf das wirkliche Leben vorbereitet.

Die ständige Bewertung, die mit dem Lernen verbunden ist (gut/schlecht, bestanden/durchgefallen, etc.) und die Sanktionen, die damit verbunden sind (Sitzenbleiben, Strafe, …), lassen das Lernen zu einem Gewinner/Verlierer-Spiel werden, das auf Konkurrenz basiert und wo wir dem Urteil von sogenannten Autoritäten (Lehrer, Professor, etc.) ausgeliefert sind. Kein Wunder also, dass wir froh sind, wenn wir irgendwann fertig sind und ‚ausgelernt‘ haben. Dieser Zustand wird ständig herbeigesehnt. Wenn wir aber so weit sind, haben wir bereits eine derartige bewusste oder unbewusste Abneigung gegen das Lernen entwickelt, dass wir uns ungerne freiwillig in weitere Lernsituationen begeben wollen.

Dies gilt nicht nur für Menschen, die die Schule gehasst haben! Ich selbst habe die Schule geliebt – aber eben nur deswegen, weil ich zu den Gewinnern gehörte! Ich hatte den Vorteil, dass ich mir Wissen schnell aneignen konnte und deshalb das Spiel zu meinen Gunsten nutzen konnte. Aber es hatte mit dem echten Leben nicht das Geringste zu tun. Ich war danach nicht mehr oder weniger auf das Leben vorbereitet, wie jeder meiner Schulkameraden. Und obwohl ich ein Gewinner war, habe ich dennoch eine Abneigung gegen das Lernen entwickelt.

Und diese allgemein verbreitete ‚Lernstörung‘ kann uns heute zum Verhängnis werden. Und ich meine damit nicht nur mein kleines persönliches Leben. Die Geschwindigkeit, in der sich unsere Lebensumstände derzeit verändern, nimmt ständig zu. Die globalen Herausforderungen, die es in naher Zukunft zu meistern gibt, erfordern von uns die Fähigkeit, schnell zu lernen und neue Möglichkeiten zu entdecken. Wenn wir unbewusst aber nicht bereit sind, zu lernen, d.h. Fehler zu machen, zu experimentieren, zu scheitern und wieder aufzustehen, werden wir uns schwer tun, unsere Zukunft zu gestalten. Das Leben bleibt aber nicht stehen, nur weil wir den Spaß am Lernen verloren haben. Und wenn wir die Zukunft nicht gestalten, dann wird die Zukunft uns gestalten – wie auch immer das aussehen mag.

Dabei ist das Lernen eine der schönsten und magischen Fähigkeiten der menschlichen Natur! Der Zustand, den wir so sehr herbeisehnen, nämlich ‚fertig‘ und ‚ausgelernt‘ zu sein, ist eine Illusion! Leben = Lernen! Jeder der schon mal einem kleinen Kind dabei zugesehen hat, wie es laufen lernt – mit welcher Leidenschaft, Geduld, Mut, Hartnäckigkeit und Spaß – weiß, wovon ich spreche. Um zukunftsfähig zu sein, müssen wir uns genau diese Einstellung zum Lernen wieder zurückerobern und uns eine neue Sichtweise in Bezug auf Lernen aneignen.

Eine Gegenüberstellung zwischen der traditionellen und der neuen Sicht auf das Lernen findet Ihr in dieser Landkarte:

Lernen – traditionelle Sichtweise

Lernen – neue Sichtweise

findet im Kopf statt findet in allen 4 Körpern statt
kommt vor dem Leben / ist getrennt vom Leben (erst muss ich lernen, dann kann ich leben) mitten im Leben / Lernen = Leben, Spielen = Leben => Lernen ist Spielen
ist linear (erst A, dann B, dann C) ist nicht linear
Ziel des Lernens ist es, irgendwann fertig zu und ausgebildet sein (‚ausgelernt haben‘/ein Zustand in der Zukunft) es ist nicht das Ziel, irgendwann fertig zu sein; Lernen gehört zum Leben, wie Atmen (vom ersten bis zum letzten Atemzug)
unser Zentrum ist in der Zukunft, wenn ich ausgelernt habe ich bin immer handlungsfähig, selbst während ich lerne – das Zentrum ist im JETZT
wird benotet nach gut und schlecht bzw. von ungenügend bis sehr gut produziert Feedback: was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert, welche anderen Möglichkeiten gibt es
ist anstrengend / immer ernst und schwer ist high level fun
es geht um bestehen oder versagen (= gewinnen oder verlieren) Es geht nicht um bestehen oder versagen, sondern es ist ein fortwährender Prozess: Go – Beep – Shift – Go
man muss beweisen, dass man es kann Beweise und Prüfungen sind nicht notwendig
ist abhängig vom Feedback der Autoritäten (= Lehrer, Professor, Guru) ich bin meine eigene Autorität und hole mir Feedback
ich sollte es eigentlich schon können, d.h. lernen ist nicht o.k. / ist eine Schwäche Nicht Wissen ist o.k. / Am Anfang sein ist o.k.
heißt, ich bin noch nicht gut genug heißt, ich lebe
ist verbunden mit emotionaler Angst vor dem Versagen und vor Sanktionen (Strafe, Sitzenbleiben, etc.) beim Lernen Angst zu verspüren ist authentisch erwachsen und normal, denn ich betrete Neuland
Angst ist schlecht – führt zu Black Out Angst ist der Motor für neue Experimente und Innovation – Angst ist o.k.
wer es nicht kapiert, braucht Nachhilfe das Leben bietet ständig Gelegenheiten zum Lernen
wer schnell kapiert, ist der Sieger schnelles Lernen ist eine erlernbare Fähigkeit
Wissen ist Macht / Kontrolle Wissen ohne Tun ist nutzlos; Wissen ist Verantwortung
es gibt einen vorgegebenen Lehrplan und eine klare Vorstellung davon, was man wissen/können muss, um ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein völlig Neues, Ungewöhnliches ist möglich;beinhaltet eine Fülle von Möglichkeiten
macht uns zu Einzelkämpfern u. Konkurrenten geht im Team am leichtesten
Haltung: ‚Augen zu und durch‘ Haltung: ‚Augen auf und sein‘

Welche Überzeugung hast du in Bezug auf das Lernen entwickelt?

Herzlichst,
Eure Patrizia

Nützliche Fragen:

  • Was sind deine tiefen (vielleicht unbewussten) Überzeugungen in Bezug auf das Lernen?
  • Wie reagierst du auf Kritik bzw. Feedback von anderen? Vermeidest du Feedback oder bittest du vielleicht sogar darum?
  • Hast du dir eine Lernumgebung geschaffen, in der du ständig Feedback bekommst, oder eine Feedbackfreie Zone?
  • Hast du heute schon etwas Neues gelernt oder hast eine Fähigkeit verfeinert? Schau genau hin, denn Lernen passiert im Leben – ständig – selbst wenn du dir nicht darüber bewusst bist.
  • Lässt dich die Angst, nicht gut genug zu sein oder zu versagen, neuen Situationen aus dem Weg zu gehen?