Wenn du glaubst du hast Zeit, vergeudest du dein Leben

Vor kurzem war ich bei einem Vortrag von Prof. Dr. Guy McPherson, einem emeritierten amerikanischen Professor, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Menschen über die bevorstehende Klimakatastrophe umfassend zu informieren. Der Vortrag fand in München statt und ich hatte die Vorstellung, es würden mindestens 100 bis 200 Menschen zu dem Vortrag kommen. Ha! Ratet mal wie viele da waren! Ich bin schlecht im Schätzen, aber es waren sicherlich nicht mehr als 35. Stellt Euch vor – in einer modernen Stadt wie München mit mehr als 1,4 Mio. Einwohnern in einem einigermaßen aufgeklärten und umweltbewussten Land kommen nur 35 Menschen zu einem Vortrag über den Klimawandel. OK, der Vortrag war auf Englisch und vielleicht hat der Veranstalter zu wenig Werbung gemacht, außerdem war es Samstag Abend zur TV Prime Time … und dennoch: 35 von 1,4 Mio. sind gerade mal 0,0025 Prozent. Wahnsinn, oder? Ich glaube, dieser Mangel an Interesse hat ganz andere Gründe.

Das Problem ist, dass wir glauben, wir hätten Zeit. Ich denke, es kommt deshalb keiner zu einem schonungslosen Vortrag über den Klimawandel, weil wir im Grunde nicht an unsere Sterblichkeit erinnert werden wollen. Weil wir diesen Teil des Lebens ausblenden wollen, denn er würde uns auffordern unsere Lebenszeit, von der wir nicht wissen, wie lange sie tatsächlich sein wird, ausgiebig zu nutzen und die Dinge zu tun, die uns wirklich am Herzen liegen.

Bronnie Ware, eine australische Krankenschwester, die Patienten in den letzten Wochen ihres Lebens vor dem Tod begleitet hat, fing irgendwann an aufzuschreiben, was sterbende Patienten am meisten in ihrem Leben bedauerten. Die fünf häufigsten Antworten waren:

  1. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, ein Leben nach meiner eigenen Wahrheit zu führen, anstatt nach dem was andere von mir erwarten.
  2. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
  3. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, öfter meine Gefühle auszudrücken.
  4. Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.
  5. Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.

Eine andere Formulierung wäre wahrscheinlich auch: „Ich wünschte, ich hätte meine Berufung gelebt.“

Die Botschaft von Prof. McPhersons Vortrag war einfach: Der Klimawandel findet statt und ist unaufhaltsam. Es ist zu spät, um ihn rückgängig zu machen. Wir haben voraussichtlich nicht mehr viel Zeit. Er schätzt, dass in frühestens 18 Monaten und spätestens 20 Jahren die Zivilisation, wie wir sie kennen, zusammenbricht, d.h. z.B. kein Benzin mehr an der Tankstelle, keine Lebensmittel mehr im Supermarkt und kein Wasser mehr aus der Leitung. Die Menschen werden von der Arbeit fernbleiben und sich um ihre Familien kümmern, usw. Und welchen Rat gibt er uns am Ende seines Vortrags? Sollen wir nun Vorräte bunkern oder einen Schutzkeller bauen oder recyceln, was das Zeug hält? Nein, sein Rat ist, uns auf das zu konzentrieren, was im Leben wirklich wichtig ist: unsere Beziehungen, unsere Berufung – kurz, ein Leben zu führen, das wir am Ende nicht bereuen, er nennt es „a life of excellence“.

Ich war am Ende etwas enttäuscht über die „Hoffnungslosigkeit“, die dieser Vortrag erzeugt. Aber nur kurz. Denn dann wurde mir klar: ENT-Täuschung ist etwas Wunderbares, denn sie befreit dich von der vorhandenen Täuschung und sagt: „Wach auf und tu, was getan werden muss! Es kann sein, dass du nicht mehr viel Zeit hast.“

Vielleicht fragt Ihr jetzt: „Was, wenn Guy McPherson Unrecht hat? Was wenn wir etwas erfinden, um die Klimakatastrophe rückgängig zu machen?“ Ja, was dann? Puh, nochmal Glück gehabt, oder was? Dann haben wir ja noch jede Menge Zeit und können erst mal weitermachen, wie bisher, oder?! Dann brauchen wir erst Mal nichts ändern.

Und das ist genau unser Trick – bzw. der Trick unserer Box, unseres automatischen Überlebensmechanismus. Wir stellen uns vor, wir hätten noch jede Menge Zeit. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Eltern immer wieder davon geredet haben, was sie alles machen, wenn sie erstmal in Rente sind oder wenn die Kinder aus dem Haus sind. Meine Mutter dachte, sie hätte noch Zeit. Meine Mutter weilt derzeit in einem Pflegeheim und leidet unter starker Demenz, die kurz nach ihrer Rente begann. Die Passagiere der kürzlich abgestürzten Germanwings Maschine dachten sicher auch, sie hätten noch Zeit.

Also egal, ob Guy McPherson und all die anderen Klimaforscher Recht haben oder nicht – früher oder später werden wir sterben! Vielleicht nicht am Klimawandel – vielleicht sogar friedvoll in hohem Alter in unserem Bett. Wir können es nicht wissen! Es gibt also keine wirkliche Alternative zu einem sinnerfüllten Leben – das ist keine Frage von Klimawandel! Im Angesicht des Todes ein würdiges Leben gemäß der eigenen Wahrheit zu führen, ist nichts anderes als der Sinn einer jeden Initiation ins Erwachsensein.

Die Frage ist, was muss passieren, dass du beginnst ein Leben zu führen, welches du am Ende nicht bereust? Was muss passieren, dass du die Illusion aufgibst, du hättest noch jede Menge Zeit?

Herzlichst

Eure Patrizia

 

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