Wenn du keine Grenzen setzen kannst, hast du nur die Wahl zwischen Misstrauen und Naivität

Viele Menschen glauben, dass Vertrauen etwas ist, das langsam und durch Erfolgserlebnisse entsteht. Wir lernen jemanden kennen und entwickeln peu á peu Vertrauen, wenn wir mit dieser Person im Laufe der Zeit positive Erfahrungen machen. Wenn wir aber genau hinschauen, stimmt das nicht ganz. Vertrauen ist nichts, was sich entwickelt. Vertrauen ist eine Entscheidung! Wir verschieben nur den Zeitpunkt dieser Entscheidung, bis wir genügend Beweise gesammelt haben, dass wir der anderen Person oder einer Situation vertrauen können. Dennoch bedarf es immer einer Entscheidung unsererseits. Und diese Entscheidung kann bewusst oder unbewusst getroffen werden. Und meist wird sie unbewusst oder auch überhaupt nicht getroffen, was die Annahme verstärkt, dass Vertrauen etwas ist, das sich entwickelt. So haben wir die Vorstellung, dass Vertrauen einfach irgendwann da ist oder wir bleiben einfach misstrauisch und auf der Hut. Ist dann endlich Vertrauen vorhanden, liegen aus dieser Perspektive die Gründe dafür mehr im Verhalten des Gegenübers oder bei den Umständen, als bei uns selbst. Dies könnte eine Annahme sein, mit der du dir selbst und unendlich vielen Möglichkeiten im Weg stehst.

Vertrauen ist eine Entscheidung!

Wenn wir davon ausgehen, dass Vertrauen eine Entscheidung ist, könnten wir uns jederzeit bewusst für Vertrauen entscheiden und nicht erst abwarten, ob es genügend Beweise gibt. Aber ob das so klug ist? Es gibt ja schließlich auch gute Gründe für unser Misstrauen oder Zögern. Oft genug sind wir verletzt, enttäuscht, gedemütigt oder verlassen worden, wenn wir zu sehr vertraut haben. Auf der anderen Seite ist Vertrauen auch die Voraussetzung für wundervolle Erfahrungen und Entwicklung. In Beziehungen, seien sie beruflich oder privat, schafft Vertrauen eine Atmosphäre von Nähe, Verbindung bis hin zu Liebe. Echte Hingabe ist nur durch Vertrauen möglich. Aber auch um das eigene Potenzial und die eigene Berufung voll zu leben, braucht es Vertrauen. Vertrauen macht es möglich, dass wir Neuland betreten und vieles mehr. Wie können wir also diesen Spagat meistern?

Eine Möglichkeit wäre, dass du ab jetzt die Entscheidung triffst, einfach allem und jedem zu vertrauen. Diese Methode ist im allgemeinen bekannt als Positives Denken. „Alles wird gut“, heißt die Devise. Du musst es dir nur oft genug einreden und vor dem Spiegel wiederholen: „Ich habe Vertrauen!“ Das Ergebnis ist allerdings nicht unbedingt Vertrauen, sondern in den meisten Fällen Naivität – und da gibt es einen himmelweiten Unterschied, wie folgende Landkarte zeigt:

Naivität

Vertrauen

Ist blind, will nicht hinschauen

Ist Selbstvertrauen

Blauäugig

Offenheit

Kindlich

Ist eine bewusste Entscheidung

Wird gerne als Ausrede benutzt

Gefühl von Getragen sein

Alles wird gut (i.S.v. Ich muss nichts tun)

Ist ein universelles Prinzip

Ich muss keine Verantwortung übernehmen

Ist gelebte Verantwortung

Positiv denken, Dinge schön reden

Mut, sich (selbst) trauen

Einen Teil der Realität ausblenden/verleugnen (z.B. nur an das Gute im Menschen glauben)

In Verbindung sein mit mir, anderen, dem Universum

Begrenzter Horizont

Liebe

Sich dumm stellen

Dienst an mir selbst und an anderen

Den Kopf in den Sand stecken

Erschafft Möglichkeiten

Unerfahrenheit

Lässt Nähe entstehen

Die Augen zuhalten und hoffen, dass man so nicht gesehen wird

Ist die Schwester der Liebe

Angst, Wut und Traurigkeit nicht fühlen wollen

Verantwortlich genutzte Angst, Wut und Traurigkeit

Naivität ist unverantwortliches Vertrauen

Wenn du naiv bist, gibst du deine Autorität und damit deine Verantwortung einfach ab – an Gott, das Universum, an Autoritäten, die Umstände oder das Gegenüber. Alles wird gut – und du musst nichts dafür tun. „Die höhere Macht“ sorgt schon dafür! Du blendest einen Teil der Realität einfach aus. Menschen sind aber nicht nur gut – jeder Mensch hat eine Schattenseite, die ihn zu allen möglichen Schandtaten verleiten kann. Auch die Vorstellung, dass wir alles gleichzeitig haben können, ohne Konsequenzen zu erzeugen, ist naiv, kindlich und vermeidet Verantwortung, z.B.

  • die Vorstellung, dass du deine Berufung leben kannst, ohne deine Komfortzone zu verlassen
  • die Vorstellung, dass du erwachsen wirst, einfach dadurch, dass du volljährig wirst
  • die Vorstellung, dass du Billigartikel konsumieren kannst, ohne dass irgendwo auf der Welt Menschen oder die Umwelt darunter leiden müssen
  • die Vorstellung, dass „Vater Staat“ für dich sorgen wird
  • die Vorstellung, dass die Mainstream Medien dir ein differenziertes Bild von dem vermitteln, was wirklich auf der Welt passiert

usw.

Naivität hat also nichts mit Vertrauen zu tun. Wie kannst du also authentisches Vertrauen entwickeln, um nicht nur die Wahl zwischen Naivität oder Misstrauen zu haben? Denn beides sind Manöver unserer Box, unseres Überlebensmechanismus, um uns vermeintlich sicher zu fühlen und in unserer Komfortzone zu bleiben.

Die eigene Autorität entwickeln als Voraussetzung für authentisches Vertrauen

Es gibt ein paar Voraussetzungen für echtes erwachsenes Vertrauen. Das Wort Vertrauen geht auf das gotische „trauan“ zurück, was so viel bedeutet, wie „stark“ oder „fest“. Bei Wikipedia findet sich auch eine interessante Definition von Vertrauen als „mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“. Vertrauen heißt in diesem Sinne in Aktion und handlungsfähig zu bleiben, auch wenn wir den Ausgang einer Situation nicht vorhersehen können. Vertrauen zu haben bedeutet auch „sich etwas zu trauen“ – und hier spielt das SICH eine tragende Bedeutung. Es geht also gar nicht darum, dass der andere sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten oder eine Situation bestimmte Bedingungen erfüllen muss, sondern darum, sich selbst und den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.

Dadurch bekommt auch Misstrauen als Gegenteil von Vertrauen eine andere Bedeutung. Misstrauen würde dann bedeuten, dass du von der Annahme ausgehst, dass du das, was du befürchtest nicht bewältigen kannst, dass du in der befürchteten Situation nicht auf dich aufpassen kannst. Du vertraust in dem Moment nicht auf deine Fähigkeiten.

Und diese neue Perspektive verändert das Spiel komplett. Denn wenn du weiterhin wartest, dass der andere oder die Welt sich verändert, damit du vertrauen kannst, dann liegt dein Leben in der Hand der anderen. Wenn Vertrauen aber eine Entscheidung ist, die auf der Fähigkeit basiert, deine eigene Autorität zu sein und für dich einzustehen, dann hast du die Möglichkeit, diese Fähigkeit zu entwickeln. Jederzeit. Sie ist Teil des Erwachsenwerdens.

Welche Fähigkeiten brauchst du, um deine eigene Autorität zu sein, um dich für Vertrauen entscheiden zu können?

1. Du brauchst Zugang zu deiner Wut

Wenn du Zugang zu deiner Wut hast und in der Lage bist, diese verantwortlich und bewusst zu nutzen, hast du ein klares Navigationssystem, welches dir jederzeit meldet, wenn jemand deine Grenzen überschreitet oder wenn etwas nicht in Ordnung ist. Im nächsten Schritt verleiht dir deine Wut die Energie und die Klarheit, Stopp zu sagen, wenn dir etwas zu weit geht oder eine Grenze zu setzen und NEIN zu sagen, wenn eine Situation für dich nicht in Ordnung ist. Wenn du über deine Wut Zugang zu deinem inneren Krieger hast, kannst du jederzeit auf dich selbst aufpassen. So kannst du dich viel öfter für Vertrauen entscheiden, als bisher.

2. Du brauchst Zugang zu deiner Angst

Solange Angst für dich ein negatives Gefühl ist, welches du um jeden Preis vermeiden willst, hast du nur die Wahl zwischen Misstrauen und Naivität. Wenn du Zugang zu deiner Angst hast und es für dich in Ordnung ist, Angst zu fühlen, hast du ein klares Navigationssystem für neue Situationen und den Raum zwischen Wissen und Nichtwissen. Genau das ist der Zweck von Angst, dass sie dich informiert, was gerade passiert – auch über das, was mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist. Während Wut das Tor zu Klarheit und Entschlossenheit ist, ist die Angst das Tor zu deiner Intuition. Sie sorgt dafür, dass du auf unbekanntem Gebiet vorsichtig und intuitiv vorgehest – denn in dieser Situation kannst du nicht auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen. Wenn du Zugang zu deiner Intuition hast, kannst du dich viel öfter für Vertrauen entscheiden als bisher.

3. Du brauchst die Fähigkeit Zentriert zu sein

Zentriert zu sein, bedeutet im Hier und Jetzt und in deiner Kraft zu sein. Hört sich gut an, oder? In den meisten Fällen sind wir das aber nicht. Wir geben unsere Aufmerksamkeit und damit unser Zentrum (und unsere Autorität) sehr häufig weg. Z.B.

  • wenn du mit deiner Aufmerksamkeit in der Vergangenheit bist und darüber nachdenkst, was du alles anders hättest machen können
  • wenn du mit deiner Aufmerksamkeit in der Zukunft bist und darüber nachdenkst, was du dann alles zu tun hast und wie du das hinkriegen sollst
  • wenn du mit deiner Aufmerksamkeit im Kopf bist und versuchst alles zu analysieren und zu verstehen
  • wenn du deine Aufmerksamkeit den Medien, dem Fernsehen, der Werbung und den neusten Produkten schenkst, die du dir kaufen könntest
  • wenn du, dich vermeintlichen „Autoritäten“ anpasst, um dich sicher zu fühlen

usw.

In all diesen Fällen, bist du nicht zentriert, hast keine Kraft und keine Autorität zu handeln. Wenn du nicht zentriert bist, hast du keinen Zugang zu deinen Gefühlen, wie z.B. Wut oder Angst, und kannst deshalb keine authentischen Entscheidungen treffen. Und Vertrauen ist eine Entscheidung!

4. Du musst in der Lage sein, schnell zu lernen

Die Fähigkeit, schnell zu lernen, öffnet dir den Raum, um dich für Vertrauen entscheiden zu können. Schnelles lernen bedeutet, dass es für dich in Ordnung sein muss, Feedback zu bekommen. Solange du Feedback als Kritik ansiehst und es deshalb vermeidest, Feedback zu bekommen, hast du keinen Zugang zur Ressource des Schnellen Lernens. Die Welt ist ein riesiger Feedback-Generator. Wenn du dich vertrauensvoll in neues Gebiet begibst und dich von Feedback in Form von „Das funktioniert – mach weiter!“ und „Das funktioniert nicht – versuche etwas anderes!“ leiten lässt, kannst du dich auf nahezu jede neue Situation einlassen.

Grundvoraussetzung für Vertrauen ist, dass du bereit bist, radikale Verantwortung für deine Handlungen zu übernehmen und dich nicht als Opfer der Umstände siehst.

Vertrauen ist eine fortlaufende verantwortliche erwachsene Entscheidung, die du in jeder Situation neu triffst. Dadurch kannst du zentriert im Nichtwissen stehen und von dort aus Schritt für Schritt Neuland entdecken, indem du deine Angst bewusst als Navigationssystem nutzt. Und falls es notwendig wird, nutzt du deine Wut bewusst, um Stopp zu sagen und Grenzen zu setzen.

Authentisches Vertrauen ist eine Fähigkeit eines initiierten verantwortlichen Erwachsenen.

Herzlichst,
Eure Patrizia